Time-out 17.02.2025, 00:00 Uhr

Exzellenz versus Glück

Wo bewegen Sie sich in diesem Spannungsfeld?
(Quelle: dotnetpro)
Es ist Samstagmorgen, und ich könnte entweder im Bett liegen bleiben und das Nichtstun genießen oder aufstehen, eine Runde Joggen gehen und mich dann fortbilden. Ich könnte schauen, welche neuen Posts es gibt, ausprobieren, wie man ein KI-API anprogrammiert, und mir Gedanken machen, ob wir unsere Software nicht komplett anders schreiben müssen, da es ja jetzt die Möglichkeit gibt, Spracheingaben der Benutzer zu verstehen und in sinnvolle Aufgaben umzuformulieren. Sicher würde ich damit Neuland betreten. Ich könnte mir psychologische Studien anschauen, wie denn eine solche neue Oberfläche gestaltet sein muss, um das Vertrauen der Benutzer zu gewinnen. Würde ein paar Nächte dran sitzen und dazu sicher auch etwas erfinden, wenn ich dranbleibe. Das traue ich mir zu. Könnte damit den Innova­tionspreis gewinnen und der Menschheit einen wichtigen Dienst erweisen. All das könnte ich.
Stattdessen drehe ich mich noch einmal im Bett um und bin einfach nur glücklich. Glücklich, dass die Sonne draußen strahlt und ich einfach faul sein darf. Ich schaue in die Augen meiner Frau und denke mir, wie schön es ist, dass wir uns haben. Dass wir Zeit füreinander haben. Und sie genießen können.
Vor zwei Jahrzehnten war ich in einem Hamsterrad gefangen. War damals für 30 Mitarbeiter zuständig, und jede Woche kamen sicher 60 bis 80 Arbeitsstunden auf die Uhr. Von den ersten Lebensmonaten meines ältesten Sohnes habe ich wenig mitbekommen. Dann kam eines Tages mein Chef zu mir und meinte, er müsse Insolvenz anmelden. Ich habe um den Lohn der letzten Monate gekämpft, war gezwungen, ihn einzuklagen, und habe mir dann geschworen: Ich werde niemals mehr mein Leben so komplett auf eine Karte setzen, niemals mehr jedem sonnigen Tag nur vom Bürofenster aus verträumt hinterherschauen. Es gibt so etwas wie Glück im Moment, und nichts auf der Welt ist es wert, dass man ihm alles opfert.

Gegenpole

Wenn ich Interviews mit Elon Musk verfolge, dann fällt mir auf, dass es ein krankhafter Wahn sein muss, der ihn verfolgt. Da scheint irgendwann in der Kindheit etwas schiefgelaufen zu sein, und jetzt glaubt er, er kann sich durch Exzellenz sein Glück zurückkaufen. „Ich glaube, dass kein Mensch mit meinem Leben tauschen sollte, denn ich bin ein sehr unglücklicher Mensch“, sagte er einmal auf die Frage, wie es sei, Elon Musk zu sein. Sind nicht alle Genies irgendwie von einem Wahn verfolgt, von einer Sucht, die sie antreibt, mehr zu geben als jeder andere Mensch, mehr zu wagen, mehr zu forschen und Grenzen zu überschreiten?
Mein nächster Blick richtet sich auf dieses Land. Seine Sattheit und Trägheit. Der wirtschaftliche Abschwung, den wir bereits seit rund drei Jahren feststellen und der so langsam auch dem letzten Zweifler offenbar wird. Und ich muss an meine Besuche in Indien denken, wie Millionen junger Menschen sich nach Wohlstand und einer besseren Zukunft sehnen und jeden Tag zwölf Stunden oder mehr damit verbringen, besser zu sein als ihre zahlreichen Konkurrenten. Sie suchen Exzellenz. Oder ich sehe japanische Musiker, die üben, üben, üben und damit international Anerkennung finden für ihre außergewöhnlichen Leistungen.
Sind wir also die Glücklichen, und die anderen folgen nur einem Wahn? Haben wir diese Zeiten hinter uns? Ist das eine Entwicklungsstufe? Oder geht es wieder bergab, werden wir bald wieder total unglücklich sein, weil keiner mehr exzellent ist? Was sollen wir also tun: Ausschlafen und die Zeit genießen? Oder aufstehen? Oder anders gefragt: Wie lange können wir uns das Ausschlafen noch leisten?
Wir wissen, dass wir in Deutschland ohne eine Elite, die neue Patente hervorbringt, Impfstoffe entwickelt oder Motoren sparsamer macht, nicht weiterkommen. Aber muss ausgerechnet ich das sein? Reicht es nicht, wenn andere das machen?
Sind Glück und Exzellenz Gegensätze? Kann man nicht auch Glück empfinden, wenn man sich einer Sache hingibt? Sich ihr verschreibt und mit Leidenschaft und Freude Menschheitsprobleme löst?
Wie ist das mit der Spannung zwischen „Ich hab schon, passt“ und „Ich sehne mich nach …“? In der Theologie gibt es den Bereich der Eschatologie, der Wissenschaft von den „letzten Dingen“. Der Mensch lebe in einem Schwebezustand zwischen „schon“ und „noch nicht“. Wir sind schon erlöst, aber noch nicht im Paradies. Man mag auf ein Paradies hoffen oder nicht, richtig ist, dass wir es uns ganz gut eingerichtet haben und es uns sehr gut geht. Bei der derzeitigen Lage kann man aber sicher nicht davon sprechen, dass wir im Schlaraffenland leben. Denn es gibt so viel zu tun, zu heilen, zu versöhnen, zu reparieren …
Ist es also der ständige Wandel zwischen Dankbarkeit und Unzufriedenheit, zwischen Glück und Exzellenz, der uns wach hält? Kann Exzellenz besser gelingen, nachhaltiger, wenn wir auch einmal glücklich sind?
Sicher ist es so, dass man nur richtig gut ist, wenn man etwas gerne tut, aber es gibt dann auch immer die Momente, in denen man sich entscheiden muss: Mache ich jetzt weiter, oder gehe ich stattdessen heute Abend mit Freunden schön essen? Ja, man könnte einwenden, dass einem vielleicht gerade dann die besten Ideen kommen, wenn man etwas Abstand hat, wenn man nicht nur in seinem Gebiet ein Experte ist, sondern sich etwas breiter aufstellt. Mag sein. Ist hin und wieder sicher auch so. Aber wenn es hart auf hart kommt und man sich entscheiden muss zwischen Exzellenz oder Glück, zwischen 80 Stunden arbeiten oder 40 Stunden Dienst nach Vorschrift, wie würde Ihre Wahl ausfallen?
Ich gehe davon aus, dass Sie jünger sind als ich, dass Sie es tatsächlich noch zur Weltspitze schaffen könnten. Wollen Sie das? Und was geben Sie dafür auf? Ein Spitzensportler hat einmal gesagt, die entscheidende Frage ist nicht, wie gut man ist. Sondern vielmehr, was man bereit ist aufzugeben, um besser zu werden. Solange 22 Spieler ihre Jugend opfern, um die Besten im Fußball zu sein, können 60 000 zuschauen und sich bei Bier und Bratwurst entspannen.
Aber wer will zu den 22 gehören, die es in der Softwareentwicklung in die Spitze schaffen? Die in ihrem Beruf Exzellenz zeigen und den Innovationspreis für das beste User Interface bekommen? Sie? Es würde mich freuen. Und ich wünsche Ihnen dabei auch einige Momente Glück. Denn ganz ohne Glück sollten Sie nicht durchs Leben ziehen. Ob das unbeschreibliche Gefühl, am Ende der Erste oder Einzige zu sein, der etwas erreicht hat, ausreicht, viele andere Glücksmomente aufzugeben, müssen Sie letztendlich selbst entscheiden.
Und ich selbst? Ich versuche, immer wieder zwischen „schon“ und „noch nicht“ zu wandeln, beides im Blick zu haben und dabei nicht zu extrem zu sein. Nicht zur Weltspitze aufzuschließen, aber trotzdem Exzellenz zu erreichen. Ich hoffe, Sie nehmen mir das nicht übel. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen: Happy Coding.
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